Post vom Chefredakteur
Zeitung und E-Paper: Die Wundertüten im Setzkasten
Liebe Leserinnen und Leser,
erinnern Sie sich noch an die Wundertüte? Diese meist rechteckigen Verpackungen gab es bald nach dem Krieg in jedem Tante-Emma-Laden für zehn Pfennig, und jedes Kind war scharf darauf. Wir haben mit den „Glückspackerln“, wie sie in Österreich heißen, den Spaß an der Überraschung gelernt. Was mochte wohl drin sein – eine Spielzeugfigur, Süßkram, eine Sammelkarte? Freudiges Erstaunen oder Enttäuschung, beides war möglich, sobald die Tüte aufgerissen war. In beiden Fällen sorgte das Prinzip für Wiederholungsgefahr, weil’s schön war oder vielleicht morgen besser würde.
Inhalt wird geklickt, nicht ausgepackt
Ganz so blickdicht sind die Angebote moderner Medien nicht. Eine zündende Schlagzeile, ein packendes Foto weisen auf den Inhalt hin, der nicht ausgepackt, sondern angeklickt wird. Wer sich überraschen lassen will, liegt dennoch richtig und kann zu jeder Zeit und immer wieder schauen, was der Tag gebracht hat.
Solche Nachrichtenportale erheben nicht den Anspruch, dass sämtliche Inhalte alle Leser und User interessieren müssen. Sie treffen eine bunt gemischte Auswahl, um ein möglichst breites Publikum zu erreichen. Das unterscheidet sie von sogenannten Special-Interest-Angeboten, wie sie etwa für Uhren-Fans, Angler, Modellbauer oder die Anhänger des kunstvollen Häkelns bereit gehalten werden.
Von Gorbatschow bis Kardashian
Ich mag die mediale Wundertüte, weil sie mich inspiriert. Ein Tag auf GN-Online, dem Internet-Nachrichtenportal der Grafschafter Nachrichten, bietet in dieser Hinsicht die volle Bandbreite. Innerhalb weniger Stunden habe ich kürzlich erfahren:
- Khloé Kardashian hat ihre Erfüllung im Mutterglück gefunden. Die 39-jährige Amerikanerin ist ein Reality-Star, an dessen Leben einige Millionen „Follower“ permanent teilnehmen, wahrscheinlich auch etliche, vergleichsweise junge Menschen in der Grafschaft. Für mich persönlich ist diese Information vollkommen überflüssig, aber das ist eben nicht das Kriterium.

Eine ganz andere Klientel unserer User interessiert sich für Reality Stars wie Khloé Kardashian. Foto: dpa
- Michael Gorbatschow ist gestorben. Kardashian-Fans werden nicht wissen, was Glasnost und Perestroika bedeuten und welcher weltgeschichtliche Rang diesem Prozess von Offenheit und Veränderung innewohnt, den der große Kaukasier als Führungsfigur der Sowjetunion in den 1980-er Jahren angestoßen hat. Ich habe den Nachruf verschlungen, er hat Erinnerungen freigesetzt.
- Die große Mehrheit der Teilnehmer an der „GN-Frage der Woche“ will ihren persönlichen Energieverbrauch im Winter senken. Das wundert mich nicht. Aber was tun die Kommunen, um den Verbrauch von Gas und Strom zu senken? Die Antworten liefert unsere Redaktion.
- Die Hausärzte beklagen ein „kommunikatives Chaos“ bei den Corona-Impfstoffen. Das nun wieder wundert Sie vielleicht nicht, eigentlich geht Ihnen das Thema sogar mächtig auf die Nerven? Macht nichts, der Nachrichtenwert bleibt hoch, weil die Pandemie unser Leben weiterhin stark beeinflussen wird.

Die Nachrichten eines Tages auf Web-Portalen wie GN-Online bieten eine große inhaltliche Bandbreite. Der Tod von Michael Gorbatschow fand starke Beachtung. Foto: dpa
Ordnung folgt der Bedeutung
Wer weder Zeit noch Lust hat, dem Nachrichtenstrom zu folgen, findet übrigens eine erste geordnete Version schon ab 19 Uhr in unserem Vorabend-E-Paper. Die „Zeitung von morgen schon heute“ wird in unserer Leserschaft stark beachtet, das freut uns. Informationen, die nach einem journalistischen Prinzip aus Bedeutung und Ordnung auf Seiten platziert werden, minimieren natürlich das Risiko, auf News zu treffen, mit denen mancher wenig anfangen kann.
Doch gut gemachte Seiten, ob elektronisch oder auf Papier, können durchaus Überraschungspotenzial enthalten. Sie sind im besten Fall – eine Wundertüte im Setzkasten.

