03.02.2023, 11:00 Uhr / Lesedauer: ca. 4min

Post vom Chefredakteur

So leicht können wir uns die Finger verbrennen

author Von Guntram Dörr

Liebe Leserinnen und Leser,

wir haben kürzlich Vladimir Putin in Anzug und Krawatte auf einem großen Zeitungsfoto gezeigt, wie er einen Rüstungskonzern in Russland besucht. Das hat nicht jedem gefallen und punktuell für Empörung gesorgt. Ein „Schwerstverbrecher“ habe in dieser Form keine Publizität verdient, meint ein Leserbriefschreiber aus Nordhorn. Die Veröffentlichung sei unentschuldbar: „Was, um Himmels Willen, hat sich die Redaktion dabei gedacht?“ Zumal auf dieser Seite der neue Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius nur auf einem deutlich kleineren Porträtfoto zu sehen war.

Putin groß, Pistorius klein: Mit Seite 3 der Grafschafter Nachrichten vom 19. Januar war mancher Leser nicht einverstanden. Foto: Lüken

© Lüken, Jürgen

Putin groß, Pistorius klein: Mit Seite 3 der Grafschafter Nachrichten vom 19. Januar war mancher Leser nicht einverstanden. Foto: Lüken

Wir bilden die Realität ab

War uns der russische Präsident, zu Recht einer der weltweit am meisten gehassten Männer, an diesem Tag wichtiger als der deutsche Politiker? Lässt sich gar klammheimliches Verständnis für den Kriegstreiber aus dem Kreml herauslesen? Ich kann verstehen, dass in Zeiten der Gefahr und grassierender Zukunftsangst die Wellen hochschlagen – auch bei den Usern von GN-Online oder in der Leserschaft der Grafschafter Nachrichten. Nüchtern betrachtet hat die Redaktion aber nichts falsch gemacht, weil sie die Realität abbildet: Diktator Putin sitzt noch immer fest genug im Sattel, um sich öffentliche PR-Auftritte leisten zu können. Dass wir alle es lieber sähen, er hätte sich ängstlich in seiner Machtzentrale verschanzt und stehe vor dem Sturz, versteht sich von selbst.

Minister bei der Truppe

Als Journalisten ist es nicht unser Job, Wunschdenken zu fördern. Pistorius, das sei versichert, war kein Opfer der Gewichtung, er selbst hätte den Größenvergleich ganz sicher nicht gezogen. Die Aufgabe, der er sich jetzt stellt, verlangt weit mehr als Publicity. Und zur Beruhigung sei darauf hingewiesen, dass der neue Mann im Bundeskabinett in den darauffolgenden Tagen durchaus sehenswert zu seinem Recht kam – unter anderem bei der Mitfahrt in einem Panzer als Beobachter eines Bundeswehrmanövers. Ministerielle Nähe kann die Truppe jedenfalls gebrauchen.

Kein Platz für Zwischentöne

Immer wieder verbrennen sich Medienschaffende die Finger an solchen und ähnlichen Konfliktherden, sie werden konfrontiert mit polarisierenden Sichtweisen ihrer Leser und User, die nur schwarz oder weiß kennen und keinen Platz für Zwischentöne lassen. Für diese Erkenntnis reicht der Blick auf eine zweite Entwicklung, die das Land zunehmend umtreibt: die teils spektakulären Proteste gegen die Zerstörung der Umwelt durch die „letzte Generation“. Und wieder spielen Bilder eine große Rolle.

Ende einer Großdemonstration: Das Aufmacherfoto der GN vom 17. Februar sorgt für Diskussionen. Foto: Lüken

© Lüken, Jürgen

Ende einer Großdemonstration: Das Aufmacherfoto der GN vom 17. Februar sorgt für Diskussionen. Foto: Lüken

„Dieses Foto war eine Frechheit“

Fotostrecke

„War es wirklich wichtig, dass auf der Hauptseite ein Bild von zwei Aktivisten gezeigt wurde, welche gerade aus ihrem selbstgebauten Tunnel rauskletterten?“, fragt uns ein Leser in einer Zuschrift per Mail. Die zum Ende der Räumung von Lützerath entstandene Aufnahme sei „eine Frechheit“, meint er und fragt weiter: „Wo sind denn die Bilder, wo Gesetzeshüter mit Steinen usw. angegriffen werden, obwohl sie nur ihren Dienst verrichten?“ Die Bilder gab es, nur nicht an diesem Tag auf der GN-Titelseite. Die Redaktion hatte sich anders entschieden.

Welchen Informationen ist zu trauen?

Ich will nicht verhehlen, dass am Ende eines langen, aufregenden und – wie im Falle der Großdemo gegen den Kohleabbau – unübersichtlichen Nachrichtentages das Pendel auch hätte anders ausschlagen können. Welchen Fernsehbildern, Web-Videos oder Korrespondentenberichten war wirklich zu trauen? Die Aussagen der Kollegen und auch der Teilnehmer, die zu Wort kamen, fielen teils widersprüchlich aus. Belastbares Material, das einen klaren Eindruck lieferte, gab es nicht: Wie aggressiv war „die Polizei“ in ihrer Gesamtheit, wie friedlich waren „die Demonstranten“?

Vor diesem Hintergrund wäre ein Titelfoto, das den Schlagstockeinsatz plakativ hervorhebt, ebenso denkbar gewesen. Und die Reaktionen? Die Zeitung wäre genauso schnell an den Pranger gestellt worden, in diesem Fall aus dem anderen Lager wegen der unangemessenen Darstellung von brutaler Polizeigewalt. Die hat es übrigens gegeben, wie NRW-Innenminister Herbert Reul einräumt, der Untersuchungen ankündigt. Gleichzeitig stimmen viele Berichte darin überein, dass formierte Gruppen von Protestlern von vornherein mit einer friedlichen Demo nichts am Hut hatten und bewusst auf Konfrontationskurs gingen.

Meinung braucht Begründung

Urteilen Sie selbst, liebe Leserinnen und Leser, überprüfen Sie gerne unsere journalistische Arbeit. Aber machen Sie sich bitte frei von dem Gedanken, bei unserem Job spielten persönliche Neigungen und Abneigungen eine Rolle. Wer dabei erwischt wird, hat keine große Zukunft in der Branche – weder bei den GN noch anderswo im Auftrag seriöser Medien. Unsere professionelle Meinung begründen wir in Kommentaren, und wir stellen uns jederzeit der inhaltlichen Kritik daran, denn wir haben die Wahrheit nicht gepachtet. Andere leider schon.

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