Die Erben entflogener Brieftauben

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Stadttauben sehen sehr unterschiedlich aus. Immer wieder sorgen entflogene Zuchttauben für Variation im Genpool. Foto: dpa
Gebäude sind ihre Felsen, drei Stöckchen ihr angedeutetes Nest und die Reste vom Burger ihr Körnerfutter. Stadttauben hinterlassen Kot - und Ärger. Zu allem Überfluss vermehren sie sich ambitioniert und kennen kaum Scheu.
Doch der Ablehnung gegenüber Stadttauben liegt oft ein Missverständnis zugrunde. Es handelt sich bei ihnen um Haustiere, an denen keiner mehr interessiert ist. „Stadttauben sind entflogene Haustauben“, sagt Jens Hübel, Tierarzt mit der Zusatzbezeichnung Zier-, Zoo- und Wildvögel. Sie stammen von der Wildform der Felsentaube ab, die in Deutschland nicht heimisch ist. Ihre Zuchtformen wie etwa Brieftauben und Fleischtauben verflogen sich - oder wurden ausgesetzt.
„Wie der Genpool zusammengesetzt ist, wissen wir nicht, aber es sind viele Brieftauben darunter“, sagt Hübel. Immer wieder lassen sich in Taubenschwärmen beringte Vögel entdecken, die Züchtern gehören. Aber die haben kein Interesse mehr an ihren Tauben. „Tiere, die nicht nach Hause finden, sind für den Brieftaubensport uninteressant“, erklärt Hübel. „Während der Flugsaison von April bis September bleiben jedes Wochenende 20.000 bis 30.000 Brieftauben auf der Strecke.“
Andere Taubenrassen sind inzwischen im Genpool der Stadttaube zu finden. Kurze Schnäbel und befiederte Füßchen sind Spuren ihrer Vorfahren. Stadttauben und Wildtauben sind hierzulande so unterschiedlich, dass sie sich nicht gemeinsam fortpflanzen können. Ihre Brutplätze sind gänzlich verschieden. Höhlen in Häusern ersetzen für die herrenlosen Haustiere die fehlenden Felsen. Nester in Bäumen widerstreben ihnen.
Wo Menschen leben, ist die Futterquelle nicht fern: Tauben ernähren sich vor allem von Abfällen. Da ist das Image von der Keimschleuder nicht weit hergeholt. Was ist dran am Mythos der „Ratten der Lüfte“? „Die Bedeutung der Stadttaube als Überträger von Krankheiten wird überschätzt“, sagt Hübel. „Das Risiko ist nicht größer als bei anderen Tierarten wie Spatzen, Krähen, Hühnern und Katzen.“ Typische Vogelparasiten wie die Rote Vogelmilbe können zum Problem werden, wenn Nester verlassen werden. Dann suchen die Milben neue Quellen, auch Menschen.
Auch eine Infektion der Atemwege durch Bakterien vom Typ Chlamydia psittaci ist möglich. Das betrifft laut Hübel in Deutschland jedes Jahr nur wenige Menschen - am häufigsten Papageienhalter und Taubenzüchter. Stadttauben seien dagegen selten die Ursache.
Mit Salmonelleninfektionen des Menschen haben Tauben im Regelfall nichts zu tun. „Nur 1,3 Prozent der Salmonellen, die bei Stadttauben nachgewiesen werden, gelten als besonders humanpathogen“, erklärt Hübel. Schimmelpilze werden weder durch Stadttauben noch durch andere Tiere übertragen.
Trotz des fehlenden Gesundheitsrisikos für die Bevölkerung: Hübel rät Menschen, die beruflich oder durch ehrenamtliches Engagement intensiven Kontakt zu Tauben und deren Exkrementen haben, sich zu schützen. Schädlingsbekämpfern, Reinigungskräften, Taubenpäpplern und Co. empfiehlt Hübel geschlossene Brille, Maske und Handschuhe. Zusätzlich sollte die Kleidung nach dem Kontakt gewechselt werden.
Auch wenn Tauben nicht gefährlich sind: Nervig können sie doch sein. Ein großer Schwarm kann Flächen verschmutzen oder Schäden an Metalloberflächen verursachen. „Eine Einladung stellen kaputte Dachstühle dar“, sagt Hübel.
Wer brütende Stadttauben auf dem Dach oder auf dem Balkon hat, sollte sich Hilfe holen. Laut Hübel können Stadttaubeneier in den ersten drei Tagen nach dem Legen problemlos entfernt, abgekocht und entweder zurück ins Nest gelegt oder durch Plastikeier ersetzt werden.
Weiß man nicht genau, wann die Eier gelegt wurden oder ob es sich um Stadttauben handelt, sollten sachkundige Personen hinzugezogen werden. Diese können bestimmen, ob es sich um Stadttauben oder geschützte Wildtauben handelt. Wann das Ei etwa gelegt wurde und ob es ausgetauscht werden kann oder auszubrüten ist, kann man so in Erfahrung bringen.
Viele Vereine helfen bei der Abnahme des Taubennachwuchses, geben Tipps, wann der Brutplatz entfernt werden kann, wie er für Stadttauben unattraktiv zu gestalten ist und wissen, was im Falle von brütenden Wildtauben zu tun ist.
Verletzte Tiere sollten Passanten einfangen, als Fundtiere der Gemeinde melden und zur Notversorgung zu einem auf Vögel spezialisierten Tierarzt bringen.
„Tauben sieht man ihr Leiden oft nicht an, das Gefieder verdeckt drastischen Gewichtsverlust“, erklärt Hübel. Auch Tauben sollten nicht leiden müssen. Die übergeordnete Strategie sollte dem Tiermediziner zufolge ein Stadttaubenmanagement sein. „Wir brauchen Taubenhäuser in denen die Tiere einen Großteil des Kots absetzen, mit Fütterung im Schlag und einem Eiertausch.“
Taubenschläge in der Nähe des ursprünglichen Aufenthaltsortes der Tiere funktionieren nach seinen Angaben gut. „Das Verschließen alternativer Brutmöglichkeiten und ein Fütterungsverbot im Umkreis machen unterstützend Sinn, damit die Tiere den Schlag gut annehmen.“